Im Frühjahr 1944 geriet ich mit 17 ½ Jahren in der Ukraine in russische Gefangenschaft.
Nach 3-monatigem Aufenthalt in einem Lager in Kiew wurde ich in das Lager Redicianko, ca. 300 km hinter dem Ural, gebracht. Anschließend erfolgte eine Verlegung in das Lager 160/4 in Orsk. Schon im August 1945 verließen Transporte mit Kriegsgefangenen die Lager. Mein Heimweh war groß und der Wunsch auch einmal bei den Transporten dabei zu sein noch viel größer. So vergingen die Tage bis zum 16.10.1945. Im Lager schrillen die Trillerpfeifen. Der Morgen war grau und diesig. Der deutsche Lagerkommandant schreit: Alle mit ihren Sachen heraustreten." Die russischen Posten schreien dazwischen die immer wieder gehörten und bekannten Worte „dawei, dawei" (schnell, schnell). Wir müssen uns in 5er-Reihen aufstellen. Die Landser munkeln: „Es geht heim, aber warum dieses Geschrei?“ Es beginnt zu schneien, erst fein, dann immer dichter. Beim Abmarsch rutschten die Gefangenen in ihren Holzschuhen und Strohpantoffeln hin und her. Nach einem kurzen Marsch gelangen wir an eine Straßenbaustelle. Jeder bekommt eine Schaufel und einen Pickel. Die Verteilung ist noch nicht abgeschlossen, da kommt ein Jeep angefahren. Wieder schreien die russischen Posten. Die ausgegebenen Arbeitsgeräte sind wieder abzugeben und wir müssen uns erneut in 5er-Reihen aufstellen. Die Posten treiben uns wie Vieh zusammen und ab geht es ins Ungewisse. Das dichte Schneetreiben lässt keine Orientierung zu. Nach ca. 1 Stunde erreichen wir einen Verladebahnhof. Dort steht ein Transportzug mit offenen Waggontüren. Der Transportleiter zählt immer wieder 40 Mann ab, die anschließend in die Waggons einsteigen müssen. Ich habe Glück, mein Kumpel Paul Lemler und ich bleiben zusammen. Die Waggontüren werden geschlossen und die Lok nimmt langsam Fahrt auf. Das Geklapper der aufeinander stoßenden Puffer erweckt neue Hoffnung. Es ist kalt. Wir fragen uns, ob wir den Russen wirklich trauen können und es jetzt endlich heimwärts geht, oder ob nur ein anderes Lager auf uns wartet. Am späten Nachmittag überqueren wir bei Saratow die Wolga. Immer wieder hält der Zug an, weil den Militärzügen Vorrang gewährt wird. Bei den Stopps werden wir mit Suppe und Brot versorgt und dürfen unsere Notdurft verrichten. Gleichzeitig werden die Toten in den letzten Waggon getragen. Ein schrecklicher Anblick! Eisenbahnalltag in der Nachkriegszeit.
Unser Zug passiert Worronesch. Auf den Bahnhöfen sehen wir Züge mit demontierten Maschinen und sonstigem Beutegut. Immer näher kommt die Ukraine. Wir durchfahren ein großes Industriegebiet und fahren weiter in Richtung Gomel und Brest Litowsk, dem großen Umladebahnhof. Hier werden die ca. 200-250 Toten ausgeladen und bleiben zurück.
Unsere Fahrt geht weiter durch Polen. Der Begleitoffizier bittet uns bei der Fahrt durch Polen die Waggons zur eigenen Sicherheit verschlossen zu halten. Wir durchfahren Scheidemühl und erreichen am nächsten Morgen Frankfurt/Oder. Geschlossen geht es ins Entlassungslager. Aufgrund der russischen Feiertage wird unsere Entlassung um 2 Tage verschoben. Danach dauert es nochmals 1 Tag bis ich meinen Entlassungsschein + Verpflegung (1 Brot, 1 Säckchen Trockenkartoffeln) erhalte, da 1500 Mann abgefertigt werden müssen. Es ist soweit, mein Freund Paul und ich sind endlich frei!
In russischem Mantel und Pelzmütze verlassen wir das Lager. Unser Weg führt uns zurück zum Bahnhof. Der nächste Zug Richtung Berlin ist unser. Der Zug endet in Köpenick. Mit der Straßenbahn geht's weiter zum Hallischen Bahnhof. In der Straßenbahn spricht uns ein russischer Offizier an und fragt uns, wo wir in Gefangenschaft waren. Nach einem kurzen Plausch gibt er uns die Hand und wünscht uns eine gute Heimfahrt. Gegen Abend besorgen wir uns in Berlin noch eine Einreisegenehmigung für die amerikanische Zone, da wir ansonsten über Tuttlingen und das französische Entlassungslager fahren müssen. Wir haben Angst davor, erneut kassiert oder in die französische Fremdenlegion gesteckt zu werden. Nach einer kurzen Pause beim Roten Kreuz geht es um 20.00 Uhr weiter per Bahn über Erfurt, Gotha, Leinefelde nach Arndhausen, wo wir die russische Grenze überschreiten. Am Morgen erreichen wir das Lager Friedland. Hier werden wir entlaust und verpflegt. Ich erhalte meine Fahrkarte nach Bullay. Weiter geht unsere Fahrt Richtung Kassel. Ein Stoß in die Seite und das Wort „Päs" reißt mich aus dem Schlaf. Ich schaue in ein grinsendes, dunkelhäutiges Gesicht. Schnell reiche ich ihm meine Einreisegenehmigung für die amerikanische Zone. Er grummelt nur „o.k." und geht weiter. Endlich erreichen wir Kassel, wo wir beim Roten Kreuz übernachten. Am darauf folgenden Tag erreichen wir Frankfurt am Main, wo wir den Zug nach Niederlahnstein besteigen. Bis Mainz-Kastel fahre ich, da der Zug total überfüllt ist, auf dem Trittbrett mit. Von Lahnstein aus gehen wir per Pedes" weiter nach Koblenz.
Immer wieder müssen wir, wegen unserer fehlenden Einreisegenehmigung für die französische Zone, die französischen Kontrollen umgehen. In Koblenz besteigen wir den Zug nach Moselweiß, weiter zu Fuß bis Güls, wo wir endlich „unsere" Mosel wieder sehen. Mit der Fähre über den Fluss, dann den Zug nach Hatzen-port, wo mich mein Weggefährte Paul mit den besten Wünschen verlässt. Ich fahre weiter bis nach Eller, wo auch für mich Endstation ist. Nach ca. 7990 km trennen mich nur noch 10 km von Alf. Langsam klappern meine Holzschuhe auf der Straße, als ein Pferdewagen an mir vorbeifährt. Ein kurzer Wink und der Wagen hält. Auf meine Frage hin nimmt er mich mit, allerdings nur bis Bremm, aber egal, auch diese Kilometer habe ich wieder geschafft. Ich durchquere St. Aldegund und mein Blick fällt moselaufwärts auf die Brücke, die zerstört im Wasser liegt. Mein Schritt wird schneller. Rechts sehe ich das Schilf, das wir als Kinder zum Bogenschießen brauchten, dann den Steinbruch und das Wasserhäuschen. Ich komme am Friedhof vorbei. Das Grab meines Vaters ist noch da, aber es sind auch viele neue Kreuze dazu gekommen. Ich komme am Krankenhaus und der Kirche vorbei, sehe einen Trümmerhaufen dort, wo früher das Gasthaus „Zum Engel" stand. Dahinter weht die Trikolore. Nun habe ich plötzlich Angst, erkannt zu werden. Ich ziehe die Russenmütze tiefer ins Gesicht und richte meinen Blick auf den Boden. Ich biege in die Kirchstraße ein und höre hinter mir, wie eine Frau ruft: „Da Krone Jupp es heimgekumme." Ich biege in die Himmelleiter ein, schnell nehme ich die 70 Stufen und bin im Weinberg, der an das Haus der Familie Stolz, den Nachbarn meiner Eltern, grenzt. Mit einem Blick erkenne ich, dass noch alles so ist, wie ich es 1943 verlassen habe. Als ich am Fenster des Nachbarhauses klopfe, schauen mich zwei Augenpaare erstaunt an, öffnen mir das Fenster und ziehen mich rein. Ich bin daheim!
Nachsatz: Genau 4 Wochen hatte ich benötigt, um vom Lager Orsk nach Alf zu kommen. Ich wog noch ca. 40 kg, aber ich war dem Tod ent-kommen. Ist das nicht ein Dankesgebet wert?
Veröffentlicht im Heimatjahrbuch Cochem-Zell 2006