Diese Episode ereignete sich im Spätjahr 1919. Seitdem ist ein Menschenalter vergangen und damit viele alte Erinnerungen.
Der 1. Weltkrieg war vorbei. Er hatte den Familien Not und Elend gebracht. Auch die Versorgung der Familien war für die Ernährer schwierig geworden. Darum wurden alle Tricks angewendet, um etwas Eßbares zu organisieren.
In Alf in der Kirchstraße, im damaligen Hause „Lanz", heute Gessinger, wohnte Anton Nicolay mit seiner Familie. Er hatte den Beinamen „Bären Tunn". Und das aus gutem Grunde. Seine Größe, etwa 1.95 - 2.00 m; seine Schuhgröße 46-47, die Finger waren wie Mettwürste lang und dick. Seine Kräfte waren enorm, und der Durst groß. Von Beruf war er Zimmermann. Also trug er zurecht den Namen „Bären Tunn". Viele ältere Bürger über 60 Jahre kennen ihn noch gut, wenn er in einer fröhlichen Gesellschaft das Lied „Im tiefen Keller" anstimmte und am Schluß die tiefsten Töne hervorholte „Und trinke, trinke, trinke" sang. Er war mein Großvater.
Nach dem 2. Weltkrieg ging ich mit ihm in den Kondelwald Holz einschlagen. Und da dies eine Knochenarbeit war, mußte man zu zweit sein. Nach einigen Tagen hatten wir unser Pensum erfüllt. So setzten wir uns für den Rest des Tages ans Feuer und tranken den mitgebrachten Wein. Es entstand eine Plauderstunde, bei der ich ihm aus den Erlebnissen der russischen Kriegsgefangenschaft erzählen mußte. Es begann eine rege Unterhaltung, in der ich ihn fragte: „Opa, warum nennen die Leute dich Dr. Walter?" Er griff nach der erdenen Pfeife, nahm sie aus dem Mund, und da erscholl ein kräftiges „Ha-ha-ha". Aus der anderen Waldseite hallte das Echo zurück. Ich hatte ihn bei guter Laune angetroffen. Sein Gesicht strahlte, und mit den Armen fuchtelte er in der Gegend herum. Plötzlich sagte er: „Josef, das muß ich dir einmal erzählen."
Es war im Spätjahr 1919. An einem Mittag verließ ich das Haus, um ins Dorf zu gehen. Als ich an der Metzgerei und Gastwirtschaft Nic. Junk vorbeikam, winkte mich der Wirt herein. Im ersten Moment dachte ich, was will er schon am hellen Werktag von dir? Nachdem ich bei ihm an der Theke stand und ihn so erstaunt ansah, sagte er: „Tunn, trinkste ein Schnäpschen?". „Das ist aber eine dumme Frage, Nikla", sagte ich. Er nahm die Literflasche und schenkte ein. Ich ließ mir es gutschmecken. Als ich den Schoppen geleert hatte, fragte er: „Trinkste noch eins?". Jetzt wurde ich hellhörig und fragte mich: „Was hat der mit dir vor?" Der Nikla war doch sonst nicht so spendabel. Er hatte aber das Glas wieder gefüllt. Und auf einmal rückte er mit seinem Anliegen heraus. „Kannst Du mir einen Gefallen tun?" „Nichts mehr als das", war meine Antwort. Er nahm mich am Arm und zog mich in den Hausflur. „So", sagte er zu mir, hier steht ein Korb mit Fleisch, den trägst Du zum Dr. Walter". Dieser Dr. Walter hatte im Hause Thiesen in der Moselstraße „Hinterlay" eine Arzt-Praxis. Ich trank das Glas leer, und nebenbei riet er mir, beim Verlassen des Hauses nicht direkt durch die Brückenstraße zu gehen. „Es braucht nicht jeder zu sehen, woher du kommst, und wohin du gehst!* Also schwang ich mir den Korb auf die Schulter und ging um die Ecke Gellner zur Gartenwiese und dann erst in die Brückenstraße. Wie ich nun so einen Fuß vor den anderen setzte und die Last des Korbes auf meine Schulter drückte, kam mir plötzlich der Gedanke, du bist doch selbst der „Dr. Walter". Noch rang ich mit meinem Gedanken, aber die Füße, die bereits die Brückenstraße erreicht hatte, zogen mich in die Kegelwiese. Immer schneller und größer wurden die Schritte. Ich bog beim Hause Fuhrmann ab in die Kirchstraße. Von da aus auf die Kockert und dann durch das „Barze-Gäßchen" zum hinteren Hauseingang. Erstaunt betrachtete meine Frau den Korb mit dem Fleisch, das sofort im Keller verschwand, um versorgt zu werden.
Dann zeigte Opa mit seiner Hand auf die Brust und sagte: „Josef, ich war der Dr. Walter". Aber nach einigen Tagen plagte mich doch mein Gewissen. Ich meidete den Weg ins Dorf, um nur nicht dem Nikolaus Junk zu begegnen. Nach einigen Wochen, als ich dachte, jetzt ist Gras über die Angelegenheit gewachsen, wagte ich mich so langsam auf normalem Weg ins Dorf. Schon oft war ich scheu am Hause Junk vorbeigegangen. Bis eines Tages, o Graus, da klopfte er wieder am Fenster und winkte mir hereinzukommen. Ich ging wieder in die Gastwirtschaft mit dem Gedanken, jetzt gibt es ein Donnerwetter. Aber nein! Nikla nahm wieder die volle Literflasche, schenkte ein Glas voll und schob es mir hin. Mit den Worten: „Hier, Tunn, trink einmal" begrüßte er mich. Und dann sagte er zu mir: „Tunn, du bist doch noch ein anständiger Mensch, bring mir nur den Korb mit dem weißen Tuch zurück.* Ha-ha-ha, so war ich doch der „Dr. Walter".
Unterdessen war das Feuer niedergebrannt und der Krug mit dem Wein leer. Gutgelaunt traten wir den Heimweg an. Der Großvater ging zufrieden nach Hause, und ich war um ein Schelmenstück, das in der Not geboren wurde, reicher.
Veröffentlicht im Heimatjahrbuch Cochem-Zell 2000